Am grünen Meer

Ein Titel, der den Betrachter gedanklich wegführt. Aus seinem grauen Alltag ins Klischee eines offenen weiten Raumes – fast unendlich weit. Der Blick kann sich ausruhen von der ikonischen Hektik aller künstlichen Werbung.
Die Augen richten sich hinaus zu einer sanften Farbstimmung, die das gelb-grüne, rechts oben befindliche Feld verursacht, mit dem dazu komplementären Rosa, das in einer halbkreisförmigen Fläche aufscheint.
Sie ist überwölbt und nach oben begrenzt, mit einer schmalen Röhre, die wie eine Brauen-Lid-Linie eine Augenform konstituiert, in dessen beschriebener Fläche die Horizontlinie

Am grünen Meer

Marion Lucka: Am grünen Meer, Öl, 1990

durch Rosa-Gelb zu einer unbunten grauen Wasserzunge führt. Darauf besetzt ein naives Schiffchen mit rotem Dreieckssegel das örtliche Zentrum – und sein dunkles, fast schwarzes Deck lässt sich als waagrechte Katzenpupille wahrnehmen. Ein zweites kleineres Schiffchen behauptet links im Augenwinkel seine Position – und wir, die Betrachter, assoziieren es als Paar.
Diese Romantik wird noch gesteigert durch die im rosafarbenen Himmel groß aufblinkenden stellaren Lichter und durch die weiche Form eines wolkenhaften Delphins.
Diese kleine Idylle setzt sich außerhalb der Bogen- bzw. Brückenform mit dem grauen Wasser fort, dem sich im oberen Bereich wieder grüne Farbflächen anschließen. Sie leiten zu einem orange-rosanen Himmelsteil über, in dem wieder Wolkenformen, auch in animalischer Form, in entgegengesetzter Richtung schwimmen. Gegen die Brückenform wendet sich ein Traumwesen mit stoßzahnhafter Zungenform, wobei der schmale Körper weder eine Mammuth-Assoziation zulässt, noch die Vorstellung eines Stieres, das verhindert der lange Haarschweif.
Animalische und anthropomorphe Formen präsentiert uns die Malerin in der unteren Hälfte: Ein Kopf, im Profil rosa getönt, mit grauen Valeurs, integriert ein Enface-Gesicht – allerdings kleiner – dies ist ein weiterer paariger Aspekt. Der kleinere, untere Kopf fixiert mit seinen herausgedrückten grauen Augen den Betrachter. Ebenso demonstrativ bleckt er ihn mit seiner roten Zungenspitze an – und zum monströsen Kopf gehört ein sphinxischer Korpus: denn weibliche Formen charakterisieren den oberen linken Teil – männliche Formen den unteren rechten. Die knieende Haltung verweist denn auch auf eine eher animalische, die als Formecho nochmals weiblicher, sich links vom Fabeltier anschließt.
Auf einem grau abgestuften Grund, am unteren Rand des Bildes, erscheint diese nackte Figur mit den einzigen anatomisch getreuen Körperteilen: Gesäß und Oberschenkel. Die potentielle Bewegtheit der beiden wird veranschaulicht durch die Nachbarflächen und ihre Rhythmen:
Unter der Figur schachbrettartige hell-dunkel-Kontrastierung und – im Bild dreimal wiederholt – immer im inhaltlichen Zusammenhang, anschließend an die verschiedenen Wesen, ein rosa Feld, das schräg durch einen hellrosa getönten Strahl durchdrungen wird: ein erotisches Indiz, ein erotischer Vorgang. Nicht so ironisch abstrahierend überrascht uns die Malerin nun mit einem harten, sadistischen Prozeß als inhaltlicher Gegenpol zur harmonischen Idylle des Schiffspaares rechts oben: hier in der linken Mitte durchschneiden paarige Messer die vereinten Köpfe eines Paares und stellen fein und sauber (kein Blut), aber tödlich und brutal die traurige Wirklichkeit her.
Marion Lucka ist mit diesem farblich leichten Bild eine Synthese gelungen, die uns ins poetische Universum mit spontanen erfreulichen wie bedrängenden Enfällen führt. Damit bietet sie uns auch die Flucht aus dem dräuenden Alltag in die gehorteten emotionalen Erfahrungsräume erotischer Provenienz an.

Sigurd Bischoff